Fanchen hat geschrieben: ↑Sonntag 27. Februar 2022, 02:43
Ohne Mearsheiner gelesen zu haben: Wie sollten die europäischen Staaten denn reagieren? Militärisch ist offensichtlich keine Option, und dass Putin nicht mit sich verhandeln lässt, ist auch offensichtlich.
ich habe weiter oben auf ein Video zu einem Vortrag von Mearsheimer über die Ukraine aus dem Jahre 2015 verlinkt.
Der Fehler der westlichen, insbesondere der US-amerikanischen geostrategischen Außenpolitik war und ist, daß sie nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion davon ausgegangen ist, der Kalte Krieg sei nun beendet, es gebe deshalb keine anderen geostrategischen Interessensphären außer derjenigen des Westens mehr. Leider haben wir vergessen, Rußland und China zu fragen, ob sie das auch so sehen.
Gleichzeitig haben die USA jedoch alle Vorstöße des wirtschaftlich und militärisch schwachen Rußlands zu einer vertieften wirtschaftlichen Zusammenarbeit zwischen Rußland und der EU sabotiert. Für die USA sind Deutschland und Rußland die einzigen ernstzunehmenden Kräfte in Europa. Ein Zusammenschluß dieser beiden Kräfte zu einem starken Europa, das den USA militärische oder wirtschaftliche Konkurrenz machen könnte, ist einer der Gründeralbträume der USA, den es um jeden Preis zu verhindern gilt. Siehe Monroe-Doktrin. Siehe Nordstream2.
NATO und EU haben sich dann gegen Osten erweitert. Rußland war damit nicht einverstanden, aber nicht stark genug, irgend etwas dagegen zu unternehmen. Im Jahre 2009 hat die NATO dann verkündet, daß sie einen Aufnahmeantrag der Ukraine und Georgiens wohlwollend behandeln werde. Rußland hat umgehend geantwortet, daß sie dies mit allen Mitteln verhindern würden. Georgien fühlte sich mit dieser NATO Ankündigung im Rücken stark genug, Rußland anzugreifen -- und hat von Rußland prompt eins auf die Mütze bekommen. Und die NATO hat keinen Finger gerührt.
Von da an galt aber das NATO-Narrativ, Putin sei ein Aggressor, der Rußland wieder auf die alte Größe der Sowjetunion ausdehnen wolle. Daß Rußland einfach nur seine vom Westen nicht wahrgenommenen geostrategischen Interessen verteidigt -- genau so wie das die USA auch tun, wollte man in Europa und in den USA einfach nicht wahrhaben.
Und so haben NATO und EU die Ukraine weiterhin ermuntert, sich weiter nach dem Westen zu orientieren.
In einer Welt, in der humanistische Werte sowie Völkerrecht und Ordnung von sich aus wie Naturgesetze uneingeschränkt gelten, gäbe es ja auch so etwas wie ein Selbstbestimmungsrecht der Völker. Alles schön und richtig. Nur leben wir nicht in einer Welt, in der humanistische Werte sowie Völkerrecht und Ordnung uneingeschränkt gelten. Recht und Ordnung sind keine Naturgesetze, die von sich aus Wirkung entfalten. Recht und Ordnung müssen durchgesetzt werden. Es muß also eine Instanz geben, die mächtig genug ist, Recht und Ordnung durchzusetzen. Und im Falle der Ukraine beansprucht Rußland, diese Macht zu sein -- genau so wie die USA für sich beanspruchen, diese Ordnungsmacht in der Westlichen Hemisphäre zu sein. Siehe Monroe-Doktrin.
Langer Rede kurzer Sinn: Die Fehler wurden in den vergangenen 20 Jahren gemacht. Der Westen hätte den Ordnungsmachtanspruch Rußlands akzeptieren müssen. Dann wäre die Ukraine ein politisch neutrales Land wie Finnland mit starken wirtschaftlicher Anbindung sowohl an den Westen als auch an Rußland.
Wir haben jedoch alles unternommen, die Ukraine zu ermutigen, sich vom Ordnungsmachtanspruch Rußlands zu lösen und sich dem Ordnungsmachtanspruch der USA zu unterwerfen. Putin hatte allerdings schon 2009 gewarnt, daß er dies nicht zulassen werde. Und nachdem die Ukraine nun angekündigt hatte, sich notfalls auch mit Hilfe von Nuklearwaffen vom Ordnungsmachtanspruch Rußlands lösen zu wollen, hat Rußland wie damals angekündigt nun zugeschlagen.
Statt daß der Westen nun aber seine Finger aus der Ukraine zurückzieht, den geostrategischen Ordnungsmachtanspruch Rußlands anerkennt, tun wir weiter so, als gäbe es diesen Anspruch nicht. Im Gegenteil, wie verhalten uns mit unseren Sanktionen gegen Rußland nun so, als unterliege die Ukraine dem Ordnungsmachtanspruch der USA. Das wird Rußland nie und nimmer akzeptieren. Und Rußland fühlt sich inzwischen militärisch wieder stark genug, seine Ansprüche durchzusetzen. Ob Rußland tatsächlich stark genug ist, seinen Ordnungsmachtanspruch notfalls auch militärisch durchzusetzen, werden wir in den kommenden Tagen, Wochen und Monaten sehen. Ich halte dies für wahrscheinlich, aber mit für Rußland nahezu suizidalen Kosten verbunden. Rußland scheint jedoch die Rückendeckung Chinas zu haben, die mit dem Ordnungsanspruch der USA über den Westpazifik und Ost-Asien ja auch nicht einverstanden sind.
Genau so werden wir sehen, ob wir mit unseren Sanktionen gegenüber Rußland den Ordnungsmachtanspruch der USA über die Ukraine durchsetzen können. Ich halte dies für unwahrscheinlich, weil dies für Europa mit nahezu suizidalen Kosten verbunden ist.
Und das alles warum?