Interessant. Ich hätte nie gedacht, dass viktorianisches Gedöns mit "Romantik" assoziiert wird - die war doch deutlich früher, und die hatten auch ganz andere Sachen an, jedenfalls die Mädels. Halt so bessere Nachthemden mit Empire-Taille, nix mit körperbetont (ganz grob vereinfacht gesagt, die Übergänge waren natürlich fließender). Im literarischen Bereich würd ich sowieso eher Zeugs à la Charles Dickens und die Penny Dreadfuls als typisch viktorianisch sehen - letztere ohne jeglichen literarischen Anspruch, reißerisch, viel Mord und Totschlag, aber natürlich spannend und unterhaltsam. Eleganter Grusel und die Exploration psychologischer (Un)Tiefen wie in der klassischen Romantik war da nicht so gefragt, Poe war ganz am Anfang, und Bram Stoker war ganz am Schluss, an der Grenze zur Moderne. Aber dazwischen sieht's imho ziemlich dünn aus. Bei der Malerei sind vielleicht noch die Prä-Raffaeliten interessant, die haben sich zumindest eine bizarre Version eines idealisierten Mittelalters zusammengebastelt. Aber sonst?
Es wäre jetzt natürlich einfach und verführerisch, auf die "ungebildete Masse" zu schimpfen, die ständig alle möglichen Epochen durcheinanderwürfelt. Aber das mach ich nicht, weil immer schon lustig zusammengewürfelt wurde und das bei weitem kein modernes Phänomen ist. Die große Frage wäre eher: Warum viktorianisch und nicht romantisch, obwohl letzteres eigentlich viel logischer wäre? Und ich glaub da wenigstens zwei Gründe dafür gefunden zu haben.
Erstens: Die hatten einen ausgeprägten Trauerkult, gestartet durch Queen Vicky herself, die nach dem Tod ihres Mannes nur noch schwarz getragen hat. Das ist für Schwarzträger natürlich spannender als weiße Fähnchen aus Musselin.
Und zweitens: Die Fotos. Die Leute schauen alle schrecklich ernst (wegen der langen Belichtungszeit, Lachen und rumwackeln war da nicht drin, obwohl damals sicher genauso gelacht wurde wie heutzutage), und alles sieht sepiafarben und düster aus. Was es eigentlich nicht war - durch die Erfindung der Anilinfarben waren die Klamotten damals bunter denn je, schreiend lila und pink und quietschegrün. Aber das Bild, was man so intern davon hat, weicht davon eben ab.
Graphiel hat geschrieben: ↑Donnerstag 5. Dezember 2019, 06:24
Passend dazu fällt mir noch auch Tilo Wolff von Lacrimosa ein. Ich weiß grad nicht, wann genau er sein Outfit von eher Urgoth orientiert zu "Vampirartig" abänderte, aber das könnte auch um diese Zeit rum gewesen sein und hatte damit vermutlich einen Einfluss auf die damalige junge Generation schwarz. Man sollte ja Einflüsse durch musikalische Vorbilder nicht unbedacht lassen, ne?
Sowieso.
Hab vor einer Weile ein Bauhaus(?)-Video gesehen, wo einer mit nacktem Oberkörper und Leder-Harness rumsprang. Nur mal so als kleiner Hinweis für die, die sich über die Latex-Leute auf dem WGT beschweren. Fetisch-Zeugs ist viel ur-gruftiger als Rüschen und Mittelalter und Fantasy.
Zu Tilo Wolff: Ich vermute, dass er den optischen Wechsel parallel zum musikalischen vollzogen hat. Also, weg von der Neuen Deutschen Todeskunst, hin zum Düster-Schlager. Aber ich mag Lacrimosa nicht besonders, drum kenne ich mich da nicht so aus.
Heimfinderin hat geschrieben: ↑Freitag 6. Dezember 2019, 07:53
Die Röcke sind auch lang, aber eher Morticia-like
Wobei die ja auch vampirartig auftritt.
Die würde ich eher als Vamp denn als Vampir sehen (wobei das natürlich eng verwandte Konzepte sind).
Ihre Klamotten sind jedenfalls ganz typisch für 30er Jahre
Glamour, was wenig verwunderlich ist, weil die Addams Family ja in den 30ern erfunden wurde.
Sieht man auch schön bei Gomez, mit seinem Clark-Gable-Schnurrbart und den Nadelstreifen.
Grauer Wolf hat geschrieben: ↑Mittwoch 4. Dezember 2019, 20:48
Weil der moderne Gothe im Innersten seines Herzens, ein kleiner, verklemmter und rüschenverliebter Spießer ist?
*sich schnell wegduckt*
Nix gegen Spießer. Ich find mich ja selber ziemlich spießig. Ich hab eine Krankenversicherung für meine Katzen, ich zahl meine Rechnungen pünktlich und geh höchstens einmal in der Woche mal weg, und selbst dann nicht mehr unbedingt bis fünf in der Früh.
Das ganze nur auf eine Handvoll Mainstream-Filme zu schieben wär mir jedenfall zu simpel. Ich bin zwar auch der festen Überzeugung, dass der massive Hype um die Kelly Family durchaus einer der Gründe ist, weswegen auf einmal so viel irisch angehauchte Folk-Musik in der Schwarzen Szene auftauchte, und Enigma und Vangelis sind definitiv Vorläufer von E-Nomine und so einem Zeugs. Aber sowas ist eben nicht der einzige Grund, sowas ist ja immer komplexer. Einfach nur zu sagen "das mit den Klamotten liegt an ein paar Filmen" wirft jedenfalls kein besonders gutes Licht auf die ach so tiefsinnige Schwarze Szene. Bei "The Crow" mach ich vielleicht noch eine Ausnahme, aber das war sowieso die Verfilmung eines sehr sehr schwarzen Comics, das ist genemigt.
Ich denk man darf nicht vergessen, dass in den 90ern sicher viele, die früher eher düster oder punkig unterwegs gewesen wären, sich dem Grunge und den Riot Grrrls zugewandt haben. Die Musik entsprach halt eher dem Zeitgeist. Die eher experimentellen Leute sind zum großen Teil in Richtung elektronische Musik abgewandert, denk ich, weil's da wirklich mehr spaßige Möglichkeiten gab.
Die waren also zum großen Teil weg, und der "romantische" Strang mit Tendenz zur Weltflucht blieb übrig. Dass der empfänglicher für glamouröse Hollywood-Streifen ist ist ja verständlich. Wobei ich wirklich nicht glauben mag, dass ein paar Filme allein da groß was langfristig ändern können. Kurzfristig sicher - Game of Thrones und diese Wikinger-Serie haben sicher auch ein paar kleinere Mode-Trends gesetzt, aber das sollte nach ein paar Jahren wieder gegessen sein.
Und Vampirfilme und -serien gab's ja schon vorher, von
"The Hunger" (mit David Bowie!) bis zu "Der kleine Vampir", wo zumindest der Teenager-Sohn sehr wenig mit Rüschen am Hut hat.
(Mein Lieblings-Vampir ist sowieso Max Schreck, aber das tut hier nichts zur Sache.)
SchwarzeKatz hat geschrieben: ↑Freitag 6. Dezember 2019, 23:18
Ich selbst war dort zwar noch nie ,aber ich weiß ,das es eine riesen Veranstaltung ist und das meiste was ich darüber gesehen habe, waren verkleidete Leute.
Das sind halt die, die von den Medien rausgepickt und präsentiert werden. Wegen der Einschaltquoten, die verkaufen sich besser.
Und dass man sich für besondere Anlässe besonders anzieht ist doch nur normal. Ich mein, es gibt ja angeblich sogar Leute, die ein spezielles und schweineteures Kleid kaufen, nur weil sie heiraten.
Ich find's eher seltsam, aber jeder wie er bzw. sie mag.
Kann natürlich immer auch ein Griff ins Klo sein - wenn ich auf einem stinknormalen Klavierabend wen in großer Abendgarderobe seh, am besten auch noch schulterfrei (ist schon vorgekommen) dann denk ich mir natürlich als erstes "Mädle, hast Du die Karte im Lotto gewonnen? So oft scheinst Du ja nicht herzukommen, sonnst würdest Du den Dresscode kennen." Aber dann merk ich, dass das eine ziemlich unfeine Einstellung ist - sollen sie doch anziehen was sie wollen, kann mir doch wurscht sein.
Und die Vorstellung, dass Frauen sich für Männer schick machen würden ... *hust* ... naja ... ist wohl eine etwas antiquierte Idee. Gibt sicher welche, die das tun, gut möglich. Wüsste aber nicht, weswegen man das machen sollte - Männer gibt's doch wie Sand am Meer, wenn überhaupt geht's doch eher drum, die sich vom Leib zu halten als sie anzulocken, aber was weiß ich schon.
Edit: Anführungszeichen ergänzt, um Ironie deutlicher zu machen - geht schriftlich ja schnell verloren, leider.